Feature-Priorisierungsmethoden für MVP-Projekte
Warum überhaupt Feature-Priorisierung in der MVP-Entwicklung?
Wie bereits angerissen, ist ein MVP der Definition nach ein Produkt mit einem überschaubaren Angebot an Features. Im Mittelpunkt steht natürlich das Feature, welches eine Innovation darstellt. Doch die Wahl ist meist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Soll etwa eine App am Markt etabliert werden, die das Verwalten von Mietwohnungen digitalisiert, stellt sich die Frage, welche Services die App in der MVP-Version enthalten sollte und welche (noch) nicht: Nebenkostenabrechnungen erstellen, Mieteinnahmeneingangsübersicht, Inventarauflistungen, Chat-Modul oder etwas ganz anderes? Dies zu priorisieren, ist nicht einfach. Daran verknüpft sind wiederum die Fragen, was aus Kundensicht gewünscht ist, was tatsächlich eine mehrwertstiftende Innovation ist und auch rein pragmatisch, was sich in einem gewissen Zeit- und Kostenrahmen vom Team umsetzen lässt.
Die Einflusskriterien der Feature-Priorisierung:
- Innovationsgrad: Welche Features sind wirklich innovativ?
- Kundenbedürfnisse: Welche Probleme haben meine Kund:innen, die ich (exklusiv) lösen kann? Welche Features bringen wirklich Mehrwerte? Das beides ist besonders wichtig. Viele Markteintritte scheitern daran, kein Product-Market-Fit gefunden oder diesen falsch eingeschätzt zu haben.
- Kosten und Aufwand: Welche Kosten und Aufwände verursachen die einzelnen Features?
- Zeit: Wie zeitaufwendig ist die Entwicklung jedes einzelnen Features?
- Skills: Welche Fähigkeiten hat mein Projektteam und welche nicht?
- Wettbewerb: Welche Features priorisieren meine Wettbewerber?
- Monetarisierung: Für welches Feature sind die Kund:innen bereit, (viel) Geld auszugeben und für welche nicht?
Diese Kriterien gilt es im Blick zu haben, um anschließend eine Liste mit allen relevanten Features zu erstellen. Die Praxis zeigt, dass die Liste häufig extrem lang wird, was die Entscheidung nicht erleichtert. Mit den folgenden fünf Methoden können Features priorisiert werden und somit eine systematische und modellbasierte Auswahl getroffen werden.
MoSCoW Model
Eigentlich würde die Abkürzung MSCW Model heißen, da dies weniger einprägsam ist, wurde zweimal der Buchstabe O hinzugefügt. So heißt das Modell nun nach der russischen Hauptstadt Moskau. Das MoSCoW Model ist relativ simpel, aber doch effektiv. Sie unterteilt Features in vier Kriterien:
Must Have (Mo): Die Must Have Funktionen müssen vorhanden sein, damit das MVP überhaupt funktionsfähig und gesetzeskonform ist. Auf dem deutschen Markt wäre dies bei einer öffentlich zugänglichen App etwa die Erfüllung von Datenschutzbestimmungen.
Should Have (S): Dies sind alle Features, die das MVP wettbewerbsfähig machen. Hier eine Auswahl zu treffen, ist schon deutlich schwieriger.
Could Have (C): Hiermit sind alle Funktionen gemeint, die es nicht in die Should Have Kategorie geschafft haben, dennoch aber ein (einigermaßen) relevantes Feature sein könnten. Could Have Feature sind Funktionen, die ein Produkt verbessern, aber im Einzelnen keinen großen Einfluss auf die Kaufentscheidung haben.
Won't Have (W): Won’t Have Features werden definitiv nicht in das MVP aufgenommen. Diese Funktionen sind für die Phase bestimmt, wenn aus dem MVP ein gereiftes Produkt geworden ist.
Vorteile und Nachteile der MoSCoW Methode
Die MoSCoW-Methode ist sehr einfach anzuwenden, leicht verständlich und schnell umzusetzen. Sie hilft dem Team, überhaupt Entscheidungen in einem gesetzten Rahmen zu treffen. Die Simplizität hat aber auch Nachteile: Das Model ist grob. Kosten und Zeitaufwand werden nicht berücksichtigt. Innerhalb der Kriterien erfolgt keine methodenbasierte Priorisierung. Die Gefahr besteht, zu viele Kriterien als Must oder Should Have zu kategorisieren.
Feature Buckets Model
Das Feature Bucket Model ist in der Softwareentwicklung populär. Es berücksichtigt Kundenbedürfnisse und gleichwohl KPIs. Basis der Methode ist es, Features in drei Buckets einzusortieren:
Metric Movers: Der Bucket enthält die Funktionen, die einen hohen Einfluss auf die KPIs des MVP-Projekts haben. Das können etwa sein: Downloads, Umsatz, Zahlungsbereitschaft usw.
Customer Requests: Wie der Name es unschwer vermuten lässt, werden hier die Features einsortiert, die die Kunden unbedingt haben wollen und auch bei einem MVP erwarten.
Delights: Hier werden Zusatzfeatures erfasst, die den Joy of Use gewissermaßen erhöhen, teilweise ungewöhnlich sind, aber dennoch einen Mehrwert bieten.
Vorteile und Nachteile von Feature Buckets
Die Feature Buckets decken auf, welche Features wirklich relevant für das MVP-Projekt sind und veranschaulichen, welcher Bucket zu viele oder zu wenige Features enthält. Nachteilig ist auch hier, dass keine Priorisierung vorgenommen wird, mit welchen der Features gestartet werden soll.
Feature Priority Matrix
Auch die Feature Priority Matrix hat wie das MoSCoW Model vier Dimensionen, in welche die Features nach ihrer Priorität einsortiert werden. Hinzu kommt allerdings, dass ebenfalls der Entwicklungsaufwand berücksichtigt wird. Hier wird also die Kritik an der MoSCoW Methode aufgegriffen. Die Feature Priority Matrix wird in einem Koordinatensystem abgebildet. Auf der x-Achse wird von links nach rechts der Arbeitsaufwand eingetragen und auf der y-Achse von unten nach oben der Kundennutzen.
Mit Blick auf die Grafik wird schnell offensichtlich, worum es geht. Es sollen die Features ermittelt werden, die gleichzeitig einfach umzusetzen sind und eine hohe Priorität seitens der Kunden haben. Unten links sind dementsprechend Features, die wenig bis gar keinen Kundennutzen haben und zudem aufwendig zu entwickeln sind. Sie werden als Time Sinks passenderweise bezeichnet. Ganz im Gegenteil zum Feld oben rechts. Diese Funktionen sind gleichzeitig sehr nützlich für die Kund:innen und relativ einfach umzusetzen. Sie heißen Quick Wins. Sehr nützliche, aber aufwendig zu entwickelnde Features werden als Big Bett bezeichnet. Leicht zu produzierende, aber wenig nutzenstiftende Features heißen Maybes.
Vorteile und Nachteile der Priority Feature Matrix
Die Priority Feature Matrix hat alle Vorteile, die das MoSCoW Model auch hat. Zusätzlich gibt es Informationen darüber, mit welchen Entwicklungen am MVP gestartet werden sollten. Nachteilig ist ebenfalls die Grobheit des Modells. Dies kann dazu führen, dass die Aufwandsschätzungen ungenau sein können.
Kano Model
Professor Noriaki Kano hat diese Methode entwickelt. Das nach ihm benannte Model dient dazu, die Kundenzufriedenheit und den Kundennutzen in das Zentrum des Handelns zu rücken. Das Kano Model gibt Aufschluss darüber, wie nah die von Kund:innen erwarteten Eigenschaften mit den tatsächlich vorhandenen übereinstimmen. Auch in der MVP-Entwicklung wird das Kano Model angewendet.
Das Kano Model unterteilt Features in fünf Kategorien hinsichtlich des Kundennutzens.
- Basismerkmale: Dies sind Features des Produkts, welche seitens der Kund:innen als selbstverständlich erwartet werden. Wenn das Produkt diese nicht hätte, würde es nicht einmal minimal Voraussetzungen erfüllen. Bei Smartphones ist es etwa selbstverständlich, dass man mit ihnen telefonieren und Apps darauf installieren kann.
- Leistungsmerkmale: Sie werden auch als Qualitätsmerkmale bezeichnet. Sie haben großen Einfluss auf die Kundenzufriedenheit. Leistungsmerkmale werden bei einer Auswahl zwischen mehreren Produkten auch als Vergleich durch die Kund:innen herangezogen. Bei einem Smartphone könnte dies etwa die Qualität der integrierten Kamera sein (Megapixel, Anzahl Linsen, Lichtstärke usw.)
- Begeisterungsmerkmale: Sie fassen Features zusammen, die die Kund:innen nicht erwartet haben, aber, wie der Name schon anklingen lässt, begeistern. Bei einem Hotelaufenthalt könnte das ein Obstkorb sein, der täglich in das Hotelzimmer gestellt wird. Der Gast hat ihn nicht erwartet, freut sich aber umso mehr darüber und bucht bei seinen nächsten Reisen nach Möglichkeit nur noch Hotels dieser Marke. (So die Wunschvorstellung bei Begeisterungsmerkmalen)
- Unerhebliche Merkmale: Hiermit sind Merkmale gemeint, die auf die Kundenzufriedenheit keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss haben. Die Farbe der von einem Hotel bereitgestellten Handtücher wird dies beispielsweise bei vielen Menschen sein.
- Rückweisungsmerkmale: Das sind Features, weswegen ein Produkt eben nicht gekauft wird. Wenn ein Smartphone etwa ein extra dickes Glas zum Schutz des Displays hat, dadurch aber die Sensitivität des Touchscreens zu gering ist.
Wie werden die Daten für das Kano Model gewonnen?
Die Datenerhebung erfolgt entweder durch Interviews oder durch Ausfüllen eines Fragebogens seitens der Befragten. Dabei wird erfragt, wie die Kund:innen ein Merkmal oder eine Merkmalsausprägung empfinden. Als Antworten sind dann möglich:
- Das würde mich sehr freuen
- Das setze ich voraus
- Das ist mir egal
- Das nehme ich gerade noch hin
- Das würde mich sehr stören
Auch dysfunktionale Fragen können eingesetzt werden wie bspw.: Was würden Sie empfinden, wenn das Produkt Eigenschaft xy nicht hat?
Die Ergebnisse werden dann aggregiert, um ein Gesamtergebnis zu erhalten und anschließend in ein Diagramm zur Visualisierung eingetragen.
Vorteile und Nachteile von Kano
Kano hat die Nutzerinteressen voll im Fokus. Das Modell ist eine gute Methode zum Bewerten einzelner Features hinsichtlich ihres Mehrwertes aus Kundensicht. In der MVP- und allgemeinen Produktentwicklung lassen sich so Wettbewerbsvorteile identifizieren und auch Kundensegmentierungen vornehmen anhand ihrer Präferenzen.
Wegen immer kürzerer Produktlebenszyklen, hoher Wettbewerbsdichte in vielen Märkten und des technischen Fortschritts, können Features, die als Begeisterungsmerkmal von Kund:innen angesehen werden, jedoch schnell zu Leistungsmerkmalen oder gar Basismerkmalen werden. Hier müssen die Projektteams sehr genau aufpassen. Kano eignet sich zudem nicht optimal für sehr neuartige Produkte. Testpersonen können aufgrund nicht vorhandener Erfahrungen nur schwer einschätzen, welche Features sie präferieren.
User Story Mapping
User Story Mapping ist eine sehr gängige Methode bei Produktentwicklungen, speziell in der App-Entwicklung. Beim User Story Mapping steht ebenfalls die Kundensicht im Zentrum. User Stories werden durch das Mapping visualisiert und zeigen den Weg der User zu einem bestimmten Ziel.
Dreh- und Angelpunkt sind bereits formulierte User Stories der Personas. Ganz oben stehen die Ziele. Darunter kommt das Backbone mit Beschreibung der Aktivitäten und Aufgaben, die aus User-Sicht erledigt werden müssen, um die Ziele zu erfüllen. Unter dem Backbone steht die Body Map mit weiteren Details zu den Aktivitäten.
Je wichtiger die Aufgaben für das Funktionieren des MVPs, desto höher stehen sie. So kann ganz einfach mit einem horizontalen Strich durch die Map festgelegt werden, in welchem Release welches Feature enthalten sein wird.
Vorteile und Nachteile User Story Mapping
Ein großer Vorteil ist die Visualisierung der Aktivitäten der User. So behält man den Überblick. Fehler / fehlende Aspekte werden schnell identifiziert. Der Fokus auf die User ist zudem ebenfalls eine Stärke — ihre Bedürfnisse werden so definitiv beachtet. Für das MVP wird auch nachvollziehbar determiniert, welche Features das MVP enthalten soll. Nachteilig ist der Aufwand, der bei einer ernsthaften Umsetzung entsteht.
Fazit und Tipps Methoden zur MVP Priorisierung
Die vorgestellten Methoden ließen sich um zahlreiche weitere ergänzen. Speziell Kano und User Story Mapping sind sehr gefragt. Sie haben die User sehr stark im Fokus, was eine wichtige Bedingung ist, um über das MVP hinaus ein marktfähiges Produkt zu entwickeln. Mindestens genauso wichtig wie die Methodik ist allerdings das Projektteam. Für die MVP Priorisierung sollte nicht eine Person alleine verantwortlich sein. Ein Team — am besten heterogen zusammengestellt — sollte sich mit der Priorisierung beschäftigen. Spezifische Tipps zur Feature-Priorisierung lassen sich in der Regel nicht machen. User wollen (glücklicherweise) immer häufiger Produkte, die fair und umweltschonend hergestellt werden bzw. meiden Brands, die dies nicht tun. Wir geben daher gerne den Tipp, sozio-ökologische Aspekte in die Feature-Priorisierung einzubeziehen.
Alle Modelle fokussieren qualitative Methoden zur Entscheidungsfindung. Das Kano Model hat durch die Aggregation eine quantitative Komponente. Für eine genauere Priorisierung bzw. für Marktforschungszwecke könnte hier die Befragung um eine Conjoint-Analyse ergänzt werden.